Als junge Frau war ich oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Schon damals liebte ich es, in fremde Städte zu reisen, Menschen zu beobachten, ihren Gesprächen zu lauschen, mich inspirieren zu lassen, in Gedanken zu schwelgen und plötzlich in einer ganz anderen Welt zu sein.
Viele interessante Menschen kreuzten meinen Weg und sie haben mich ohne Zweifel auf die eine oder andere Art beeinflusst. Mich zu beeinflussen oder zu beeindrucken war damals ein leichtes Unterfangen. Aufgewachsen im tiefsten Emmental gab es nicht viele Gelegenheiten, die Welt und die Menschen zu entdecken...
Mit einem Lächeln erinnere ich mich heute, 37 Jahre später, an jene junge Frau zurück, die mir im Zugsabteil gegenüber sass. Sie hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht, blondes schulterlanges Haar, grosse blaue Augen und ihre Lippen waren in einem knalligen Pink geschminkt. Ich studierte ihr Gesicht und war von diesen pink geschminkten Lippen so fasziniert, dass ich kaum meinen Blick abwenden konnte. Ich war hin- und hergerissen und konnte mich beim besten Willen nicht entscheiden, ob ich diese knalligen Lippen nun schön fand oder nicht. Vermutlich fand ich sie schön - seither schminke ich meine Lippen auch...
Dann gab es noch jene Dame, die regelmässig in unsere Augenarztpraxis kam. Es handelte sich um eine ca. 55 Jahre alte Frau, die trotz Krankheit und Schmerzen immer sehr gepflegt erschien. Sie liess sich nicht unterkriegen und schien zu sagen: Seht her, mir geht es gesundheitlich nicht gut, aber ich liebe mich und meinen Körper trotzdem. Meine Bewunderung für diese Frau war sehr gross und sie hat mich eines gelehrt: Auch wenn es dir im Leben nicht gut geht, so ist es doch gerade die Fürsorge für den eigenen Körper, die Wertschätzung und Liebe, die man sich selber entgegenbringt, so entscheidend. Sich selber wertschätzen und lieben tut nicht nur dem Körper-, sondern auch der Seele gut. Es muss sich aber um eine gesunde, fürsorgliche und umsichtige Liebe handeln und nicht um jene krankhafte, egozentrische, zerstörerische und vernichtende Selbstliebe, die das eigene Ego dermassen ins Zentrum stellt, dass die Mitmenschen auf der Strecke bleiben. Diese Art von Liebe meine ich nicht...
Menschen kommen und gehen. So ist das nun einmal. Manche begleiten uns ein Leben lang, andere erteilen uns eine Lektion für's Leben. Und doch, wie würde ein Leben aussehen ohne Erfahrungen und Enttäuschungen? Wie könnten wir uns weiterentwickeln, wachsen? Was wäre ein Leben ohne die vielen Hochs und Tiefs? Langweilig? Schön? Was wäre das Leben ohne unsere Freunde und Familie, die uns durch's Leben begleiten? Sind nicht gerade sie es, die unser Leben so sehr bereichern, die da sind, wenn es uns gut oder schlecht geht, wenn wir fallen... ins Bodenlose... Sind nicht gerade sie es, die uns auffangen, die uns tragen, mit denen wir lachen und weinen, uns freuen und bis in den 7. Himmel fliegen? Haben sie wirklich diesen Stellenwert in unserem Leben, den sie auch verdienen? Oder bleiben sie öfter auf der Strecke, weil uns Beruf, Status und tausend andere Dinge wichtiger sind? Ist ein Leben auf der Überholspur wirklich so erstrebenswert mit all seinen Licht- und Schattenseiten? Wollen wir unser "schlechtes Gewissen", unseren „inneren Kritiker“ verstummen lassen, indem wir durch's Leben hetzen, als gebe es kein Morgen?
Gefühle, Emotionen, sie sind es, die uns so menschlich- aber auch verletzlich machen. Was haben wir nicht alles schon erlebt, durchlitten, gehofft, geträumt, uns gegenseitig inspiriert und analysiert. Uns und unsere Mitmenschen hinterfragt und am Schluss doch festgestellt: Ohne die Begegnungen, Bekanntschaften, Freundschaften wäre unser Leben trostlos, farblos, öde. Wen könnten wir dann noch beeindrucken, ärgern, lieben? Menschen kommen manchmal wie ein Hauch und manchmal wie ein Wirbelsturm in unser Leben. Vielleicht, um diesem eine andere Richtung zu geben, es zu bereichern oder uns eine Lektion zu erteilen...
Also, lassen wir uns auf unsere Mitmenschen ein und freuen uns auf bereichernde, inspirierende, herausfordernde, spannende und umwerfende Begegnungen...